Vermutlich gibt es keine ehemalige DDR-Fachzeitschrift, deren Existenz von ersten Ideen der Gründung unter sozialistischen Bedingungen bis zu deren Ende unter kapitalistischen Verhältnissen so dokumentiert ist wie die der Zeitschrift Mikroprozessortechnik. Am Anfang zeigen sich die Hürden der Mangelwirtschaft - vor allem Papierknappheit -, am Ende die Folgen knallharter Kalkulation - mit den Beschäftigten als unternehmerische Verschiebemasse: Rund zwei Jahre nach der Wende in Richtung Marktwirtschaft konstatierte VT-Betriebsratsvorsitzender Schlegel Anfang 1992 eine verbliebene Mitarbeiterzahl von 29. Es mussten sich somit rund 85 Prozent - und in der Folgezeit noch mehr - der früheren rund 200 VT-Mitarbeiter zumeist unfreiwillig eine neue Existenz aufbauen. Für die Mitarbeiter der MP-Redaktion war die monatliche Produktion der Zeitschrift zu jeder Zeit eine interessante bis aufregende Tätigkeit. Die MP war ja 1986 eine der wegen Material- und Arbeitskräftemangel seltenen Neugründungen in einem schon über Jahrzehnte bestehenden Verlag mit etablierten Lektoraten und Redaktionen. Die „Neuen“ erwartete ein eher reservierter Empfang: Sie beanspruchten ohnehin schon knappe Räumlichkeiten, anderen Zeitschriften des Verlages wurde Papierkontingent entzogen, damit die MP erscheinen konnte - zumal in einer Auflagenhöhe, die die der meisten Verlag-Technik-Zeitschriften bei weitem übertraf. Auch gab es inhaltliche Überschneidungen mit der radio fernsehen elektronik (rfe), was immer wieder zu Diskussionen zwischen den Redaktionen und Kritik seitens des Beirates und von Autoren führte. Sie vermissten ein nunmehr angepasstes klares Profil der rfe, die auch nach Gründung der MP deren spezifische Themen weiterhin, nun „nebenbei“, dennoch umfangreich, abhandelte. Und natürlich hatten sich die neuen MP-Kollegen in die gewachsenen Strukturen und ungeschriebenen Regeln des Verlages einzuordnen. Bis hin zu den Geburtstags-, Ein- und Ausstandsritualen der 3. Etage bzw. der Abteilung III bei Kaffee, Kuchen und Goldbrand. Einige organisatorische Besonderheiten im Redaktionsalltag konnten der damalige Verantwortliche Redakteur Paszkowsky und Redakteur Weiß aus ihrer vorherigen Redaktion rechentechnik/datenverarbeitung aber auch einbringen. Beispielsweise das Anlegen von Vorgangsmappen für die Manuskripte und Schreiben vom Eingang bis zum Druck und zur Honorierung. Versehen wurden die Mappen mit sogenannten Allongen, beschrifteten schmalen Papierstreifen, die das schnelle Auffinden der Mappen auch in den damals großen Manuskriptstapeln ermöglichten. Gestalterisch versuchte die MP-Redaktion, sich eher die aufwändigeren westlichen Computerzeitschriften zum Vorbild zu nehmen, als sich an den trockenen VT-Fachzeitschriften zu orientieren. Insbesondere, da das Leserspektrum sehr breit und damit die Erwartungen an den Inhalt und die journalistische wie gestalterische Aufbereitung entsprechend hoch waren. Das stieß in seltenen Fällen - genaugenommen in nur einem dokumentierten Fall - auch an Grenzen, wie die Zurechtweisung durch die Abteilungsleiterin Rumpf zeigt; sie störte in der Rezension eines Fachbuches aus der BRD die Abbildung des Titels - aus Gründen der Platzverschwendung und wegen politisch falscher, zusätzlicher werblicher Akzente. Wer aber daraus schlussfolgert, in der DDR wären Veröffentlichungen zur Literatur oder Informationstechnik aus dem NSW (Nichtsozialistisches Wirtschaftsgebiet) generell unterbunden worden, der irrt: Gern gesehen wurden sie „von oben“ zwar nicht. Eine Befürchtung war, Nachfrage nach Hard- oder Software aus dem NSW zu wecken, die nicht befriedigt werden konnte. Oder im Vergleich damit Zweifel am Entwicklungsstand der „Schlüsseltechnologie Mikroelektronik“ der sozialistischen Staaten zu erzeugen. Mit Verweis der Redaktion auf die Notwendigkeit, Entwickler und Anwender der DDR im Wettlauf mit dem Westen auch über den internationalen Stand der Informationstechnik informieren zu müssen, wurden sie jedoch toleriert. Zum Beispiel in den Messeberichten, in denen die Produkte westlicher Aussteller genauso Berücksichtigung fanden wie die aus der DDR oder aus den „sozialistischen Bruderländern“. Auch kreierte die Redaktion entsprechende Rubriken: „Entwicklungen und Tendenzen“, in denen sie zumeist in kurzen Meldungen über Neuheiten informierte, hier in MP 6/1988 zum Beispiel über das Microsoft-Betriebssystem MS OS/2 für Compaq-PCs. Oder in MP 6/1989 über die Ankündigung von Intels Prozessor 80486. In „Technik international“ wurden internationale Trends behandelt; zum Beispiel in MP 9/1988 der Compaq Deskpro 386s mit Erläuterung seiner Komponenten oder in MP 1/1989 auf der 4. Umschlagseite anhand der Vorstellung von Toshiba-Laptops die neuartigen portablen PCs. Eine weitere Rubrik war „vorgestellt“ mit ausführlichen Informationen zu einem Produkt; in MP 8/1989 zu Intels Mikroprozessor i860 oder in MP 9/1989 zu den RISC-Workstations von DEC. Während
es zu solchen Beiträgen keine Einwände von übergeordneten
Stellen gab, sahen sich doch die Kombinate Robotron und
Mikroelektronik veranlasst, über ihre Beiratsmitglieder hin und
wieder zu intervenieren. Vor allem dann, wenn es um die sogenannte „Kompatibilität“ von DDR-Hard- und -Software mit westlichen Erzeugnissen ging. Beispielsweise erregten die Titelseite von MP 12/1988 zu MS-DOS und eine Beschreibung des Microsoft-Betriebssystems über vier Druckseiten den Unmut der Kombinats-Verantwortlichen. Auch hier hieß es nämlich im Beitrag: „Kompatibel zu MS-DOS ist das Betriebssystem DCP (Disk Control Program) vom VEB Kombinat Robotron, wobei die Versionsnummern übereinstimmen.“ Jedermann in der DDR wusste, dass von den Mikroprozessoren der Computer bis zu den Betriebssystemen und Anwendersoftware vieles westlichen Produkten „nachempfunden“ war. |
Hans Weiß
Siehe auch:
Aufbruchstimmung vor Katerstimmung